- Die
gute Seite der Krise: Die Wiederentdeckung von Normen und Werten (Walter Schoger, 2009)
Die
Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt zunehmend mehr menschliche Seiten. Sie
offenbart Abgründe - und zugleich (re-)produziert sie Visionen und
Projektionsflächen für Hoffnung.
Die
Finanzkrise öffnet den Blick auf eine ihr zugrunde liegende Wertekrise
(vgl. Sloterdijk; SZ vom 3.01.09, S. VIII). In der Süddeutschen
Zeitung vom 03.01.09 machen Psychologen von der LMU München unter dem
Titel "Gruppendruck, Gier und Verdrängung" "eine Handvoll psychologischer
Phänomene" für die Finanzkrise verantwortlich. Daraus leiten
Sie die Notwendigkeit einer schärferen Marktregulierung ab, die "zu
einer neuen, koordinierten und globalen Finanzordnung führen" soll.
Diese Forderung fügt sich gut in die aktuelle Stimmungs- und Diskussionslage
ein. Denn in Wirtschaft und Politik wächst die Überzeugung, dass
die Freiheit des Marktes zunehmend reguliert werden muss, sogar in den USA(!).
Die Figur des homo oeconomicus aus der klassischen und neoklassischen
Wirtschaftstheorie bekam Schlagseite. Wirtschaftliches Handeln, so die
schmerzhafte Erkenntnis aus der jüngsten Geschichte, erfolgt nicht
ausschließlich zweckrational. Dies ist allein aufgrund einer enormen
Intransparenz internationaler Märkte geradezu unmöglich. Das
Wirtschaftssystem ist in seinen internen Prozessen aufgrund seiner Differenziertheit,
Vielschichtigkeit und globalen Vernetztheit schwer durchschaubar und kaum
kontrollierbar. Daher ist der Erfolg äußerer Systemstimulationen
schwer einschätzbar.
Neuerdings wird der Blick häufiger vom sich selbst regulierenden
Wirtschaftssystem hin zum Menschen gelenkt, als Opfer, als Verursacher
und als Gestalter seiner Bedingungen. Die sozialpsychologische und ethische
Dimension im Handeln und in der Verantwortung des Einzelnen wurde seither enorm aufgewertet.
"Alte" Weisheiten, Werte und Tugenden, die ihren Zenit längst
überschritten und von der Rationalität zweckgerichteten Handelns
längst entzaubert zu sein schienen, werden neuerdings wieder
entdeckt und öffentlich diskutiert. Sie hatten sich im "anything goes"
(anyway?) zunehmend als sperrig erwiesen, büßten an Wert-Schätzung
ein und gerieten in Vergessenheit.
Die Krise bescherte
ihnen eine Renaissance. In der ersten Ausgabe (2009) des IHK-Magazins für
München und Oberbayern skizziert der Hauptgeschäftsführer
Driessen den Weg aus der Krise als "eine Frage des Vertrauens" (IHK
für München und Oberbayern 2009, S. 3). Er mahnt, sich an "dem
Ziel nachhaltigen Wirtschaftens und an dem Leitbild des ehrbaren Kaufmanns"
zu orientieren. Und er erinnert daran, dass der "Erfolg der sozialen
Marktwirtschaft ... kein Zufall, sondern die Summe alter deutscher Wirtschaftstugenden
- Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Innovationsfreude, hohe Produktqualität
und fairer Umgang mit Geschäftspartnern" gewesen sei. Diese Tugenden
haben in der Tat mehr als nur Charme. Im Herbst 2008 äußerte
der chinesische Botschafter im Rahmen einer Fernsehdiskussion, dass
China nur deshalb so stark sei, weil es die Tugenden lebe, die Deutschland
einst so stark gemacht hätten...
Zwischenfazit:
Das (blinde) Vertrauen in die Natur der Märkte und des Menschen ist
erschüttert. Die aktuelle Diskussion um die Herausforderungen, Chancen
und Lösungen der Finanz- und Wirtschaftskrise wirft ein Schlaglicht
auf "Normen" und "Werte". Die Konsequenz wären intensive Werte- und Normdiskussionen
in Wirtschaft und Gesellschaft, in Betrieben und im Privaten. Diese Richtung
ist viel versprechend. Die Geschwindigkeit allerdings, mit der "Lösungen"
aus dem Hut gezogen werden ist bedenklich. Nur unzureichend ist erkennbar,
dass die oft nur angerissenen, dafür mehrfach wiederholten Denk- und
Lösungsansätze in die Tiefe gearbeitet, breit diskutiert und zielgerichtet
entwickelt würden. Mit diesem eklatanten Versäumnis geht die Gefahr
von Schnellschüssen einher, die nicht nur nicht zielführend siind,
sondern nachhaltig schaden. Insofern bewirken halbherzig verfolgte (Um-)Bildungsprozesse
oft das Gegenteil, von der Irritation zur Frustration hin zu einem weiteres
Lernen blockierenden Rück-Schritt.
Die Erfahrung
in der Prozessbegleitung, sei es im Feld der Strukturentwicklung wie der
Personalentwicklung zeigt, dass viel Sensibilität, Offenheit, Engagement
und ein langer Atem gebraucht wird, im Großen (dem System) wie im
Kleinen (dem Individuum). Dies lässt sich an der vermeintlichen
Langatmigkeit der inneren Einigung Deutschlands seit der Wende genauso
ablesen wie an der Schwierigkeit Einzelner, ein über die Jahre eingeschliffenes
alltägliches Verhalten auf Dauer zu ändern.
Die nachhaltige
Veränderung von Kultur und Struktur, von innerer Haltung und konkretem
Handeln braucht eine sensible Analyse, systemisches und systematisches Denken
und Handeln - und Zeit für das Entwickeln, Erreichen, Überprüfen
und Neujustieren des in die Wege geleiteten Prozesses. Solche Veränderungen
erfordern kontinuierliche Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Begleitung. Und
sie brauchen das tiefe Vertrauen und die Überzeugung, dass in derartige
Prozesse investierte Ressourcen eminent gegenwarts- und zukunftswichtig
sind, weil sie in Fort-Schritte einmünden.
--> zurück
zur vorherigen Seite